Bio boomt. Ob im Supermarktregal, auf dem Wochenmarkt oder in der Fernsehwerbung – das grüne Siegel steht für Gesundheit, Tierwohl, Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Doch was ist wirklich dran an diesen Versprechen? Und wo lohnt es sich, genauer hinzuschauen?
In diesem Beitrag nehme ich das Bio-Label kritisch unter die Lupe: Wie gesund ist Bio wirklich? Welche ökologischen Effekte sind belegt? Und warum ist Bio nicht automatisch nachhaltiger?
1. Bio ist kein Synonym für Gesundheit
Viele Konsument*innen greifen zu Bio-Produkten, weil sie sich davon gesundheitliche Vorteile versprechen. Tatsächlich zeigen Studien, dass Bio-Gemüse und -Obst tendenziell mehr sekundäre Pflanzenstoffe enthalten – etwa Antioxidantien. Doch der Unterschied ist oft marginal: 5–20% mehr, je nach Studie. Das ist im Alltag kaum relevant. Entscheidender für die Gesundheit ist die Ernährungsweise insgesamt: Wer viel Obst, Gemüse und Vollkorn isst, lebt unabhängig vom Bio-Siegel gesünder.
Auch beim Thema Pestizide gibt es Differenzen: Bio verzichtet auf synthetische Pestizide, konventionelle Produkte enthalten gelegentlich Rückstände – allerdings fast immer unterhalb der gesetzlichen Grenzwerte. Die gesundheitliche Relevanz dieser Spuren ist wissenschaftlich umstritten. Es reicht üblicherweise aus, Obst und Gemüse vor dem Verzehr einfach abzuwaschen, um überschüssige Pestizide zu reduzieren.
Ein weiteres Missverständnis: Bio bedeutet nicht automatisch bessere Hygiene- oder Rückstandswerte. Auch biologische Kontaminationen wie Schimmel oder Bakterien sind nicht ausgeschlossen – hier zählt wie immer Verarbeitung, Lagerung und Transport.
2. Bio ist nicht automatisch besser für die Umwelt
Der Bio-Landbau verzichtet auf Kunstdünger und synthetische Pestizide. Das schont Böden, Gewässer und Insekten. Studien zeigen: Auf Bio-Flächen leben durchschnittlich 30% mehr Arten. Auch fördert der ökologische Landbau den Humusaufbau, was langfristig CO2 bindet.
Aber: Bio bringt im Schnitt 20–50% geringere Erträge. Um die gleiche Menge Lebensmittel zu produzieren, braucht es mehr Fläche. Wenn dafür neue Ackerflächen erschlossen oder importierte Bio-Produkte über tausende Kilometer transportiert werden, schrumpft der Umweltvorteil drastisch. Pro erzeugter Kalorie kann die CO2-Bilanz dadurch sogar schlechter ausfallen als bei konventioneller Produktion.
Hinzu kommt: Auch im Bio-Bereich gibt es große industrielle Strukturen. Plastikfolien, Monokulturen, exzessive Bewässerung – all das ist auch bei Bio möglich. Das Label sagt nichts über Betriebsgröße oder ökologische Gesamtheit aus.
Ein zusätzlicher Aspekt: Der Einsatz natürlicher Pflanzenschutzmittel im Bio-Anbau – etwa Kupfer – ist keineswegs unproblematisch. Kupfer reichert sich im Boden an und kann Bodenlebewesen wie Regenwürmern schaden.
3. Bio bedeutet nicht automatisch Nachhaltigkeit
Das EU-Bio-Siegel ist ein Agrarstandard. Es sagt nichts aus über:
- CO2-Fußabdruck
- Transportwege
- Soziale Bedingungen
- Verpackung oder Lebensmittelverschwendung
Ein Bio-Apfel aus Neuseeland ist deshalb nicht nachhaltiger als ein konventioneller Apfel vom Nachbarhof. Auch in Sachen Preis ist Bio nicht für alle Menschen zugänglich: Die Produkte sind oft 30–100% teurer, was einkommensschwache Haushalte ausschließt.
Viele kleine Betriebe arbeiten umweltfreundlich und ökologisch, können oder wollen sich aber das Bio-Siegel nicht leisten. Die Kosten für Zertifizierung, Kontrolle und Dokumentation sind für kleinere Höfe oft zu hoch. Deshalb lohnt es sich, regionale Erzeuger direkt zu unterstützen – auch ohne offizielles Siegel.
Und: Der Bio-Anteil im Supermarkt wächst, aber er verändert nicht automatisch das Ernährungssystem. Wenn weiterhin große Mengen tierischer Produkte konsumiert werden – auch in Bio-Qualität – bleibt die Umweltbelastung hoch. Denn Tierhaltung, egal ob bio oder konventionell, ist für den Großteil der Emissionen in der Landwirtschaft verantwortlich.
4. Tierische Bio-Produkte: kein Freifahrtschein
Bio-Tierhaltung hat strengere Vorgaben als die konventionelle: Mehr Platz im Stall, Auslauf im Freien, biologisches Futter ohne Gentechnik, kein präventiver Antibiotikaeinsatz. Das sind klare Fortschritte im Vergleich zur Massentierhaltung.
Doch auch Bio-Tiere werden getötet – meist in denselben Schlachthöfen wie konventionelle Tiere. Die Transportbedingungen zum Schlachthof, die Trennung von Mutter und Kalb in der Milchviehhaltung oder das Töten männlicher Küken bei Bio-Legehennen (sofern nicht explizit ausgeschlossen) bleiben ethisch umstritten.
Hinzu kommt: Tierische Produkte verursachen, unabhängig vom Label, deutlich mehr Treibhausgase als pflanzliche. Eine bio-zertifizierte Kuh stößt nicht weniger Methan aus – und der Flächenverbrauch für Futter bleibt hoch.
Und: Nur weil theoretisch ein Auslauf im Freien vorgeschrieben ist, heißt das nicht, dass jedes Tier ihn nutzt. Viele Tiere sind durch Zucht, Haltung und Umgebung derart belastet, dass sie apathisch oder körperlich zu geschwächt sind, um dieses Recht tatsächlich wahrzunehmen. Tierwohl auf dem Papier ist nicht automatisch Tierwohl in der Praxis.
Wer Bio-Fleisch oder -Milchprodukte konsumiert, unterstützt bessere Standards – aber nicht automatisch eine nachhaltige oder tierethisch unproblematische Ernährung.
5. Was wirklich zählt: Systemwandel statt Labeldenken
Bio kann Teil einer nachhaltigen Ernährung sein – aber es ist kein Selbstläufer. Wer wirklich nachhaltig essen will, sollte sich nicht nur am Siegel orientieren, sondern fragen:
- Wie viele Tierprodukte esse ich?
- Kommt mein Essen aus der Region und Saison?
- Wie stark ist es verarbeitet?
- Wie viel werfe ich weg?
- Unterstütze ich Strukturen, die ökologisch UND sozial fair sind?
Denn die Wahrheit ist: eine rein pflanzenbasierte, saisonale Ernährung mit konventionell erzeugtem Gemüse kann ökologisch sinnvoller sein als eine bio-zertifizierte Ernährung voller importierter, stark verarbeiteter oder tierischer Produkte.
Fazit: Bio ist ein Schritt – aber nicht das Ziel.1
Ein grünes Label allein macht keine Welt besser. Aber informierte, reflektierte Entscheidungen können es. Nachhaltige Ernährung heißt: ganzheitlich denken, systemisch handeln und über Etiketten hinausblicken.
Bio ist kein Gütesiegel für ethisches oder ökologisches Handeln – es ist eine Produktionsrichtlinie. Wer Bio mit moralischer Überlegenheit verwechselt, verpasst die Chance auf echte Veränderung. Es kann ein guter Hinweis sein – mehr aber auch nicht.
Quellenhinweise:
- Chatterjee et al. (2024): Organic food consumption and cardiometabolic risk – A systematic review. European Journal of Clinical Nutrition.
- Clark et al. (2021): Global food system emissions and dietary transitions. Nature Food.
- Seufert et al. (2012): Comparing yields of organic and conventional agriculture. Nature.
- European Commission (2018): Regulation (EU) 2018/1981 – Use of copper in organic farming.
- Meier et al. (2022): Life cycle assessment of organic versus conventional food. Science of The Total Environment.