Neue kritische Nährstoffe in der veganen Ernährung?
Die pflanzenbasierte Ernährung hat sich in den letzten Jahren als gesundheitsförderliche und ökologisch nachhaltige Ernährungsform etabliert. Zahlreiche Studien belegen ihre Vorteile: geringeres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, niedrigere Entzündungswerte, ein gesunder Body-Mass-Index und ein reduziertes Risiko für Typ-2-Diabetes. Dennoch gibt es Nährstoffe, bei denen vegane Ernährung an Grenzen stößt. Drei davon stehen besonders im Fokus: Arachidonsäure, Cholin und Taurin.
Dieser Artikel beleuchtet, warum diese Nährstoffe so wichtig sind, welche Herausforderungen sich bei veganer Ernährung ergeben – und was das konkret für Schwangere, Stillende, Kinder und gesunde Erwachsene bedeutet. Dabei wird sowohl auf aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse als auch auf weniger bekannte Details eingegangen, die das Verständnis für das Thema vertiefen.
1. Arachidonsäure (ARA)
Was ist Arachidonsäure eigentlich? Arachidonsäure ist eine Omega-6-Fettsäure, die in tierischen Lebensmitteln wie Fleisch, Eiern und Milchprodukten vorkommt. Im menschlichen Körper ist sie ein wichtiger Bestandteil von Zellmembranen und spielt eine entscheidende Rolle in Entzündungsreaktionen, der Regulation von Blutgefäßen und der Signalübertragung zwischen Zellen. Besonders bekannt ist ARA als Vorstufe der sogenannten Eicosanoide, eine Gruppe hormonartiger Substanzen, die z. B. die Kontraktion von Muskeln und die Immunabwehr beeinflussen.
Wird ARA wirklich benötigt, wenn der Körper sie selbst herstellen kann? Theoretisch ja – praktisch nicht immer ausreichend. Arachidonsäure kann aus Linolsäure, einer Omega-6-Fettsäure aus pflanzlichen Ölen, synthetisiert werden. Allerdings ist diese Umwandlungsrate extrem niedrig (nur 0,2–0,6 %) und bei etwa einem Drittel der Bevölkerung sogar noch geringer. Gerade in Lebensphasen mit hohem Bedarf – wie Schwangerschaft, Stillzeit oder im Säuglingsalter – ist der Körper daher auf eine zugeführte Menge angewiesen.
Was sagt die Wissenschaft zur Versorgung bei veganer Ernährung? Untersuchungen zeigen: Trotz fehlender tierischer ARA-Zufuhr ist der Status bei vegan lebenden Schwangeren, Stillenden und Kindern oft vergleichbar mit omnivor Ernährten. Die Muttermilch enthält relativ konstante ARA-Konzentrationen, die offenbar vom Körper reguliert werden. Studien zeigen jedoch Unterschiede im ARA-Gehalt je nach Phase der Schwangerschaft. So lagen die Werte veganer Schwangerer im ersten Trimester leicht unter denen von Mischköstlerinnen, glichen sich im späteren Verlauf jedoch wieder an.
Was bedeutet das für die Praxis?
- Gesunde Erwachsene müssen sich in der Regel keine Sorgen machen.
- In der Stillzeit ist ARA in der Muttermilch enthalten, unabhängig von der Ernährung.
- Säuglinge, die nicht gestillt werden, sollten Pre-Nahrung erhalten, die ARA enthält. Diese Zutat ist nicht mehr verpflichtend, obwohl Experten sie für essentiell halten (z. B. Koletzko et al. 2020).
2. Cholin
Warum ist Cholin so wichtig? Cholin ist ein unverzichtbarer Nährstoff für den Aufbau von Zellmembranen, die Bildung des Neurotransmitters Acetylcholin, die Entgiftung von Homocystein und die Entwicklung des Gehirns im Mutterleib. Es spielt auch eine Rolle in der Lebergesundheit: Cholinmangel kann zur Fettleber führen.
Was ist das Besondere an Cholin in der Schwangerschaft? Die Syntheseleistung des Körpers steigt zwar in der Schwangerschaft, dennoch reicht sie oft nicht aus. Studien zeigen, dass eine niedrige Cholinzufuhr im ersten Schwangerschaftsdrittel mit einem deutlich erhöhten Risiko für Neuralrohrdefekte (z. B. Spina bifida) verbunden ist. Cholin ist damit – ähnlich wie Folsäure – entscheidend für die gesunde Entwicklung des Nervensystems.
Wie steht es um die Versorgung in der veganen Ernährung?
- Veganer:innen erreichen im Durchschnitt nur 30–80 % der empfohlenen Zufuhr.
- In einer deutschen Studie (Roeren et al., 2022) erreichten nur 7 % aller Schwangeren – über alle Ernährungsformen hinweg – den empfohlenen Cholinwert. Bei Veganerinnen waren es sogar nur 5 %.
- Die wichtigsten pflanzlichen Quellen sind Soja, Quinoa, Linsen, Brokkoli, Mandeln und Buchweizen. Aber: Die Mengen reichen selten aus.
Und wie sieht es bei gestillten Säuglingen aus? Interessanterweise enthält Muttermilch von Veganerinnen genauso viel Cholin wie die von Omnivorinnen. Der Körper scheint hier gezielt Speicher zu mobilisieren. Auf lange Sicht kann das aber zu mütterlichen Defiziten führen.
Empfehlung:
- Cholinreiche pflanzliche Lebensmittel bewusst integrieren.
- Supplementation besonders in Schwangerschaft und Stillzeit erwägen (z. B. 400–500 mg/Tag).
- Im Kleinkindalter kann eine Zufuhr über vollwertige pflanzliche Kost schwer sein – ggf. zusätzliches Supplement in Betracht ziehen.
3. Taurin
Was ist Taurin – und warum ist es (nicht nur in Energy-Drinks) relevant? Taurin ist eine schwefelhaltige Substanz, die im Körper aus den Aminosäuren Methionin und Cystein gebildet werden kann. Es reguliert die Zellflüssigkeit, ist wichtig für die Herzfunktion, wirkt antioxidativ, stabilisiert die Netzhaut im Auge und beeinflusst den Calciumstoffwechsel in den Zellen.
Warum kann Taurin kritisch sein? In tierischen Produkten ist Taurin reichlich vorhanden. In pflanzlichen Lebensmitteln hingegen praktisch gar nicht – Ausnahmen sind manche Algenarten. Studien zeigen, dass Veganer im Vergleich zu Mischköstlern deutlich geringere Taurinspiegel im Blut und Urin haben. Der Körper reagiert darauf mit erhöhter Rückresorption – ein Anpassungsmechanismus, dessen Grenzen nicht abschließend geklärt sind.
Welche Rolle spielt Taurin für Säuglinge? Neugeborene haben eine noch sehr geringe eigene Synthesefähigkeit für Taurin. Deshalb gilt es in dieser Lebensphase als bedingt essenziell. Studien zeigen, dass die Taurinkonzentration in der Muttermilch veganer Mütter tendenziell niedriger ist – wenngleich sie oft noch innerhalb der Norm liegt.
Hat ein Taurinmangel Folgen für Erwachsene? Das ist nicht abschließend geklärt. Es gibt Hinweise darauf, dass niedrige Taurinspiegel die Thrombozytenaggregation verstärken können, also die Verklumpung von Blutplättchen – was das Risiko für Thrombosen oder Schlaganfälle beeinflussen könnte. Besonders interessant: Taurin scheint den Calcium-Einstrom in Thrombozyten zu hemmen. In Studien wurde gezeigt, dass selbst kleine Mengen (ab 400 mg/Tag) die Aggregationsfähigkeit der Plättchen reduzieren konnten.
Empfehlung:
- Supplementierung mit 150–400 mg/Tag bei Veganern möglich und sicher
- Bei Säuglingen unbedingt auf Taurin in der Pre-Nahrung achten, wenn nicht gestillt wird
- Für Kinder im Wachstum: Taurinbedarf noch nicht eindeutig geklärt, aber Beobachtung sinnvoll
4. Schlaganfallrisiko bei Veganern: Ein unterschätzter Aspekt?
In der vielbeachteten EPIC-Oxford-Studie zeigte sich ein interessantes Phänomen: Während das Risiko für Herzinfarkt bei Veganern niedriger war, war das Risiko für hämorrhagische Schlaganfälle (also durch Hirnblutungen) leicht erhöht (+20 %). Warum das so ist, wird derzeit diskutiert.
Mögliche Erklärungen:
- Sehr niedrige Cholesterinwerte könnten die Gefäße anfälliger machen.
- Taurinmangel könnte die Blutgerinnung beeinflussen.
- B12-Mangel kann zu erhöhtem Homocystein führen, was wiederum Gefäße schädigt.
Was heißt das für Vegan-Lebende? Ein großer Teil dieser Risiken ist mit guter Supplementierung kontrollierbar. Vitamin B12, Omega-3 (EPA/DHA) und ggf. Taurin sind hier die Schlüsselfaktoren. Wichtig ist auch die regelmäßige Laborkontrolle – z. B. Homocystein, Omega-3-Index oder B12-Status.
Fazit: Was du aus dem Artikel mitnehmen solltest
Die vegane Ernährung kann gesund sein – aber sie verlangt in bestimmten Punkten mehr Aufmerksamkeit. Besonders Cholin und Taurin sind Nährstoffe, bei denen durch rein pflanzliche Kost möglicherweise ein Mangel entstehen kann. In der Schwangerschaft, Stillzeit und bei Kindern ist eine bewusste Planung essenziell.
Wer diese Punkte beachtet, seine Werte im Blick hat und bei Bedarf gezielt supplementiert, kann auch als Veganer:in gut versorgt sein – und das ganz ohne tierische Produkte.
Wichtiger Hinweis: Dieser Artikel ersetzt keine individuelle Ernährungsberatung. Bei Unsicherheiten sollten Ärzt:innen oder qualifizierte Ernährungsfachkräfte zu Rate gezogen werden.
Quellen:
Berthold Koletzko et al. (2019). Nutrition During Pregnancy, Lactation and Early Childhood and its Implications for Maternal and Long-Term Child Health: The Early Nutrition Project Recommendations. DOI: 10.1159/000496471
Rana, S. K., & Sanders, T. A. (1986). Taurine concentrations in the diet, plasma, urine and breast milk of vegans compared with omnivores. Br J Nutr, 56(1), 17–27. DOI: 10.1079/bjn19860082
Laidlaw, S. A., Shultz, T. D., Cecchino, J. T., & Kopple, J. D. (1988). Plasma and urine taurine levels in vegans. Am J Clin Nutr, 47(4), 660–663. DOI: 10.1093/ajcn/47.4.660
Brenna, J. T. (2016). Arachidonic acid needed in infant formula when docosahexaenoic acid is present. Nutr Rev, 74(10), 658–665. DOI: 10.1093/nutrit/nuw007
Koletzko, B. et al. (2020). Should formula for infants provide arachidonic acid along with DHA? A position paper of the European Academy of Paediatrics and the Child Health Foundation. Am J Clin Nutr, 111(1), 10–16. DOI: 10.1093/ajcn/nqz252
Carnielli, V. P. et al. (2007). Synthesis of long-chain polyunsaturated fatty acids in preterm newborns fed formula with long-chain polyunsaturated fatty acids. Am J Clin Nutr, 86(5), 1323–1330. DOI: 10.1093/ajcn/86.5.1323
Weder, S. et al. (2022). Intake of micronutrients and fatty acids of vegetarian, vegan, and omnivorous children (1–3 years) in Germany (VeChi Diet Study). Eur J Nutr, 61(3), 1483–1496. DOI: 10.1007/s00394-021-02753-3
Derbyshire, E. & Obeid, R. (2020). Choline, Neurological Development and Brain Function: A Systematic Review Focusing on the First 1000 Days. Nutrients, 12(6), 1731. DOI: 10.3390/nu12061731
Derbyshire, E. (2023). Choline in Pregnancy and Lactation: Essential Knowledge for Clinical Practice. Nutrients, 15(20), 4431. PMCID: PMC12073457
Roeren, M. et al. (2022). Inadequate Choline Intake in Pregnant Women in Germany. Nutrients, 14(22), 4862. DOI: 10.3390/nu14224862
Graham, M. et al. (2023). An Analysis of the Nutritional Adequacy of Mass-Marketed Vegan Recipes. Cureus, 15(4), e37131. DOI: 10.7759/cureus.37131
Perrin, M. T. et al. (2020). Total Water-Soluble Choline Concentration Does Not Differ in Milk from Vegan, Vegetarian, and Nonvegetarian Lactating Women. J Nutr, 150(8), 2040–2047. DOI: 10.1093/jn/nxz257
McCarty, M. F. (2004). Sub-optimal taurine status may promote platelet hyperaggregability in vegetarians. Med Hypotheses, 62(2), 233–238. DOI: 10.1016/j.mehy.2002.11.007
Naismith, D. J., Rana, S. K., & Emery, P. W. (1987). Metabolism of taurine during reproduction in women. Br J Nutr, 58(1), 53–61. PMID: 3570861
Kim, E.-S. et al. (1996). Taurine intake of Korean breast-fed infants during lactation. In: Huxtable RJ et al. (Eds). Taurine 2: Basic and Clinical Aspects. Springer, Boston.